"Timi und Oskar"

12.04.2020

Eine Kurzgeschichte nach einer wahren Begebenheit.


Timi war ein kleiner aufgeweckter und fröhlicher Junge. Er liebte Tiere über alles und war mächtig stolz darauf, einen Hasen namens «Oskar» zu haben.

Das Tierchen war sein Ein und Alles und immer nach der Schule eilte er so schnell er konnte nach Hause zu seinem geliebten Oskar. Er verbrachte Stunden damit, dem süssen Kerl beim Mümmeln einer Karotte zuzuschauen, sein weiches Fell zu liebkosen oder zu beobachten, wie er lustig über das Gras im Gehege hoppelte. Manchmal schien die Sonne durch die langen Ohren des Kaninchens und sie schimmerten leuchtend rot. Timi musste dann immer von Herzen lachen und er wünschte sich, er hätte auch so lange leuchtende Ohren.
Oskar kannte alle Geheimnisse und Sorgen von Timi. Geduldig hörte er ihm zu und versicherte dem kleinen Mann, nur schon durch seine Anwesenheit, dass alles gut werden würde...

Eines Tages, als Timi von der Schule Heim kam, sah er von weitem seinen Vater, wie er etwas hochhob. Er konnte es zuerst aus der Ferne nicht richtig erkennen. Aber mit jedem Schritt, den er näher zum Haus machte, realisierte er, dass das Oskar war. «Oskar...!?», schoss es Timi durch den Kopf und sein Herz begann zu pochen bis zum Hals.
Er sah, wie sein Vater das zappelnde Tier an den Ohren packte und einen Gegenstand an dessen Kopf hielt. Plötzlich hörte Timi einen Schuss. «Nein, nein!» schrie er und begann loszurennen. «Nein!!...Nein!!» Seine Stimme begann sich vor Entsetzen zu überschlagen.
Das konnte doch nicht wahr sein! Völlig ausser Atem erreichte er den Schuppen, der neben dem Haus stand.
Timi wurde Zeuge, wie sein Vater seinen geliebten Oskar an die Holzwand nagelte und das Fell über die Ohren des leblosen Tierchens zog.
Timi stand in Schockstarre mit offenem Mund da, sein Herz raste, er hörte nur noch sein Blut rauschen. Er war unfähig etwas zu sagen. Erstarrt in seiner Ohnmacht und bodenlosen Fassungslosigkeit zitterte er am ganzen Leib und stammelte: «Aber, aber...das...ist doch...Oskar...mein Oskar...».
Ohne seinen Sohn anzuschauen, murrte der Vater: «Ach, das war doch nur ein Hase. Sei doch nicht so hysterisch!»
Timi flüsterte: «...das ist doch so schade Papa...das ist doch so schade...Oskar war...» mehr brachte er nicht mehr raus, drehte sich um und rannte los. Sein Vater rief hinter ihm her: «Jetzt hab dich doch nicht so! Das war nur ein Tier! Sei doch kein Weichling! Aus dir wird ja nie ein richtiger Mann!»

Timi rannte und rannte, egal wohin, einfach nur weg! Als er nicht mehr konnte setzte er sich keuchend am Waldrand nieder und schluchzte ohne Ende.
Noch nie hatte er solch einen Schmerz gefühlt, noch nie hat ihm jemand so weh getan.
Sein Oskar! Sein geliebter Freund! Umgebracht vom eigenen Vater, den er immer so bewundert hatte.
«Oskar... Oskar, wo bist du?» fragte Timi in die Leere seiner Trauer. Immer wieder überkamen ihn Weinkrämpfe. «Nie mehr darf ich mit dir zusammen sein, Oskar...jetzt bin ich ganz alleine» flüsterte der Junge bebend.
«Was hast du getan, Papa?!» schluchzte der kleine Junge. Timi wurde es ganz schwindelig und übel.
Er wollte seinen Vater hassen, innerlich schrie er ihn an: «Ich will gar nie ein Mann werden! Ich will Oskar...meinen Freund...». Das Vertrauen in seinen Vater - und überhaupt in alle - hatte er verloren.

Vollkommen erschöpft schleppte sich der Junge beim Eindunkeln nach Hause, ging hoch auf sein Zimmer und warf sich aufs Bett. Von unten hörte er die Stimme seines Vaters rufen: «Timi! Abendessen! Es gibt Hasenbraten!»
Das Kind zog die Decke über seinen Kopf und weinte sich in den Schlaf.

Am nächsten Morgen konnte der keine Junge nicht aufstehen. Er fühlte sich wie unter einer Glasglocke und hohes Fieber plagten ihn, begleitet von einer starken Lungenentzündung.
Es dauerte Wochen, bis Timi wieder zu Kräften kam und gesund wurde; sein verletztes Herz jedoch, wird nie wieder heilen...

Die Jahre vergingen und aus Timi wurde Tim, ein Mann...
Er hat dieses fürchterliche Erlebnis verdrängt, denn diese Wunde darf niemals aufbrechen, sonst würde er seelisch verbluten.


Text by: Bea Kälin