Nummer 3560
Ein blutverschmiertes Nummernschild, eine Plakette, abgerissen wie ein Preisschild, achtlos weggeschmissen auf den Boden eines Schlachthauses...
Diese Nummer hing einst an einem Ohr, an einem lebendigen
Körper, einem Individuum, in dem ein Herz schlug, aus dem sanfte Augen
schauten, die die Welt bewusst wahrnahmen.
Nun ist der Körper längst tot - gemordet, hingerichtet hinter den Mauern der
Bestialität.
Kein Atem mehr, kein Pochen des Lebensstroms - nichts mehr.
Ein kurzes Leben lang verstümmelt an Leib und Seele, übrig
bleibt eine kalte Nummer und das Zeugnis davon, wie herzlos der Mensch dem Tier
begegnet.
Registriert als Gebrauchsobjekt, wurde es entwürdigt, degradiert und beim
letzten Gang in die Todeszone mit Stöcken, Elektrostrangen und Knüppeln
traktiert.
Aus dem von Menschenhand errichteten blutigen Tempel, drangen
Schreie der nummerierten Opfer nach draussen - so auch jene von Nummer 3560.
Niemand eilte zu Hilfe, niemand hatte Erbarmen. Alleingelassen in der
entsetzlichen Angst, ausgesetzt der Willkür des Menschen, der keine Gnade kennt
und auch nicht kennen will!
Individuen wurden schon immer mit Nummern tätowiert,
beschildert oder gebrandmarkt, damit man sie als Objekte behandeln konnte.
Der Sklave hat seine Nummer, man kann jetzt frei über ihn verfügen, ihn foltern,
verstümmeln, töten und Profit daraus schlagen. Er ist ein Eigentum, entrechtet
und degradiert.
Nicht länger mehr ein fühlendes Wesen soll er sein, nein, er ist jetzt eine bedürfnislose Ware, ein entseelter Gebrauchsgegenstand, den man mal hier hin und mal dorthin zerrt - ihm alles nimmt, was für ihn existenziell war.
Nummer 3560 - ich taufe dich auf den Namen Amélé. Dieser Name stammt aus dem afrikanischen und bedeutet: «Hoffnung, Sehnsucht».
Amélé! Ich weiss, du hast dich nach Unversehrtheit gesehnt, nach deiner Familie und Freunden, nach Vertrauen und Güte. Man hat dich verraten und verkauft, betrogen um ein ganzes Leben, das dir zugestanden hätte!
Niemand trauert jetzt um dich - ich tu's.
Schmerzhaft nehme ich Abschied von dir in der Hoffnung, dass
nun doch noch eines Tages dein Tod, und der all jener, die mit dir gehen mussten, betrauert
wird.
Ein Monument an Kränzen soll niedergelegt werden, für dich und Milliarden
namenloser Opfer, die der Höllenschlund verschlang.
Améle, du warst nie die Nummer 3560.
Du warst ein gütiger Engel, dem man brutal die Flügel brach.
Text by: Bea Kälin